Das Märchen
Die Sonne brannte unarmherzig auf die ausgedorrten, knorrigen Planken des Schiffes. Die Matrosen schwitzten allein schon davon, wenn sie an der Reling standen und auf die Küste blickten. Wo vorgestern noch ein weisser, unberührter Stand zum träumen einlud, konnte man heute nur auf kahlen, harten Felsen blicken.
‚Steilküste, das Wort muss man wohl erfunden haben, als man hier vorbei fuhr. Denn hätte man dieses Wort vor dieser Küste schon gekannt, so hätte man ohne Zweifel ein neues hierfür erfunden.‘ dachte Constanze bei sich. Sie lehnte leger an der Reling und ignorierte die vereinzelten Blicke der Crew, welche sich noch immer nicht so ganz an diesen Gast gewohnt hatten. Sie kostete ihre Narrenfreiheit, welche sie durch ihren Stand als hochrangige Militäroffizierin genoss, schamlos aus.
„Sir, Madam, wir werden in zwei Stunden den Hafen erreichen.“ wurde Constanze durch eine resolute Stimme aus ihren Gedanken gerissen.
Constanze atmete tief die salzige und von Fischgeruch durchtränkte Brise durch ihre Nase ein. Langsam drehte sie ihren Kopf und schaute direkt auf das Kinn des Kapitäns, welche vor ihr in einem militärisch mehr oder minder korrekten Gruss verharrt war.
‚Also Mühe gibt er sich schon, das muss man ihm lassen.‘ sah sie über die für ihr Auge offensichtlichen Haltunsmängel hinweg und atmete sanft aus und schloss dabei ihre Augen. Constanze hob ihr Kinn, hielt aber die Augen geschlossen, daher vermutete sie nur, dass der Kapitän seine Haltung aufgab, als sie zu sprechen begann. Ein gepresster, schwerer, stoßartiger Ausatmer war für Constanze aber als Indiz hierfür vollkommen ausreichend.
„Ich habe die Fahrt durchaus genossen. So viel Ruhe und Zeit zum Nachdenken bekommt man normal nicht zugestanden in einer Position wie der meinen. Daher bin ich sehr dankbar, dass sie mich als Passagier aufgenommen haben.“
„Sir, Madam, es war mir eine Ehre. Und ich möchte mich nochmals für ihre unstandesgemässe Unterkunft und Verpflegung vielfach entschuldigen. Dies ist nur ein einfaches Transportschiff, mit geringen und nur sehr bescheidenen Möglichkeiten Reisende zu bewirten.“
Spontan öffnete Constanze ihre Augen und drehte sich auf den Kapitän zu. Sie klopfte, als wäre es nichts ungewöhnliches, dem angstvoll zusammenzuckenden Kapitän sanft auf die Schulter. „Solange das Essen und die Unterkunft angenehmer ist als auf einem Manöver ist es für mich ausreichender Luxus.“
Ohne weiteres Wort oder Zögern ging Constanze lächelnd an dem Opfer iheres „Gefühlsausbruchs“ vorbei.
Sie bemerkte noch das schelmische Grinsen eins Matrosen, der an ihr vorbei ging.
Leise schlängelte sich etwas Wasser durch eine flache Rinne eines Steines. Jahrhunderte, Jahrtausende hatte dieses kleine Quellchen gebraucht um sich diesen Weg zu sichern. Jede Minute baute es ein minimalst kleines Partikelchen des Steines ab und nahm es mit. Weg, weit weit weg. Es transportierte es über Hunderte von Kilometern. Durch viele, teils sehr grosse und gefährliche Flüsse bis man das Partikelchen endlich im Meer wieder freigab und aussetzte. Und dort, im weit entfernten Meer liessen sie es auf den tiefen Meeresboden sinken und meinten damit es ein für alle mal aus dem Weg geschafft zu haben. Damit es ihnen ja nie wieder den Weg an die frische Luft versperren konnte oder sogar das Tageslicht verwehren.
Das Quellchen hatte aber auch wirklich viel zu bestaunen gehabt nachdem es einst, eben vor vielen Tausend Jahren mehr per Zufall als aus Absicht neugierig über den Stein zu fliessen begann. Und dieses Erlebnis, das Licht der Erde und alles drum herum wahrzunehmen wollte es sich nicht mehr nehmen lassen. Es war schon eine ziemliche Sensation als es den mächtigen Berg hinter sich wahrnahm. Das Quellchen konnte gar nicht glauben, dass es aus dem inneren eines solch massiven und riesigen Berges hat herauskommen können. Aber es beschwerte sich nicht, dass es so klein war. Es dachte vielmehr, dass es sicher ein Vorteil ist. Es vermeinte, dass die meisten es daher übersehen und in Ruhe lassen werden.
Nicht aufgefallen dabei war dem Quellchen, dass in den vergangenen Jahren eine Art Nachbar bekommen hatte. Ein junges Wesen aus Fleisch und Blut hatte sich immer wieder in dessen Nähe eingefunden und sich auf dem Stein einen Ruheplatz gefunden.
Dieser Nachbar war Zamuel. Für das Quellchen war er sehr jung und leicht zu übersehen. Auch wenn das Quellchen nur sehr klein war und es eigentlich mit noch viel kleineren Dingen sich beschäftigte, so hatte es doch Probleme Sachen wahrzunehmen welche so schnell waren, dass sie noch nicht einmal ein Jahrhundert an einem Ort verweilten. Das Quellchen hätte sich also schon sehr konzentrieren und nach etwas suchen müssen, wenn es diese kleinen Zeitspannen hätte wahrnehmen wollen in denen Zamuel sich bei ihm zu Besuch befand.
Zamuel war ein stattlicher Mann. Nicht mehr der jüngste, aber dennoch stand er im Besitz seiner vollen Kräfte und war agil und stark. Er sorgte für seine Familie, sowie seine Frau und seine Tochter sehr gut mit Pfeil und Bogen, aber auch wenn nötig dem Messer in der Hand. Kurz, er war ein guter Jäger. Umso weniger erwartete man, und auch er selber, dass er sich teils stundenlang zurückzog und einfach auf einem Stein legte. Den Himmel, die Bäume, die Wolken, die Steine, alles um ihn herum, auch die Stille, in sich aufzunehmen und die Gedanken fliegen zu lassen. Anfangs war er an diesen Ort gekommen, um über seine Tochter nachzudenken. Es war sehr schwer für ihn. Zamuel hielt sich immer für einen sehr direkten und starken Mann. An Philosophie oder Kunst lag ihm nie etwas. Solche Sachen waren in seinen Augen für andere. Er brauchte etwas handfestes und kam mit diesen Hirnakrobtiken nicht zurecht. Umso mehr war es für ihn von Bedeutung, dass er weg, weit weg ging und Ruhe herrschte, wenn er sich seinem Gehirn entgegenstellte.
Zumindest zu Beginn war es das. Standhaft und tapfer wollte sich Zamuel seinen Gedanken entgegen und sie gleichzeitig zur Rede stellen. ‚Warum belästigt ihr mich? Lasst mich in Ruhe!‘ schrie er ihnen entgegen, aber sie wollten nicht verstummen und mahnten ihn zur Vernunft. Sie sagten ‚Du bist Familienvater, Zamuel, du kannst nicht mehr alles mit einem guten Schuss oder Stück Fleisch lösen. Die Welt ist jetzt komplizierter für dich geworden. Stelle dich dem, das bist du deiner Tochter schuldig. Du willst doch ihr Bestes, oder etwa nicht?‘
Aber gerade das war es, was Zamuel so zusetzte. Woher sollte gerade er wissen, was gut war und was nicht? Er vertraute auf seine Instinkte im Normalfall. Und darauf konnte er sich verlassen, wenn es darum ging, ob er wegrennen oder angreifen sollte. Aber wenn es darum ging, was er seiner Tochter sagen sollte oder was er ihr beibringen sollte, dann waren seine Instinkte stumm.
Irgendwann war aber Zamuel müde geworden mit sich zu streiten und dann versank er in der Stille und er sah nur noch die Wolken oder die Blätter. Er fand für eine Zeit lang auch selber Ruhe, sie hatte einfach auf ihn abgefärbt und dann endlich konnte er sich entspannen. Und zu seiner eigenen Überraschung stand er irgendwann auf um nach Hause zurückzukehren und er hatte, wenn auch vielleicht keine Antworten, aber doch die Gewissheit und das Vertrauen, dass er das Richtige machen werde.
Zum eigenen Entsetzen hatte Zamuel über die Jahre 2 Dinge gelernt.
Zum Ersten: die Probleme und Sorgen, welche einem das eigene Kind machte, wurden immer grösser und bedeutender.
Zum Zweiten: Er hatte sich verändert. Zamuel war nicht mehr der Jäger und Mann der er war. Zamuel stand für Handeln. Doch mittlerweile war auch Nachdenken und Erkenntnisse erlangen zu einem Teil seiner Welt und seines Wesens geworden.
Eigentlich waren es sogar 3 Sachen. Denn er hatte nicht nur akzeptiert, dass diese Entwicklung in Ordnung war. Nein, es war sogar so, dass er glücklich war, dass es so gekommen ist. Im Moment war es nur so, dass die Situation besonders schwierig und heikel war. Seine Tochter stand vor der wichtigsten Entscheidung für ihre Zukunft. Es ging um ihre Berufswahl. Jeder in der Familie wünschte sich, dass sie ihr Potenzial doch bitte ausnutzen sollte. Sie hatte so viel Geschick im Umgang mit den Mächten und Elementen der Erde. Aber nein, der kleine Sturkopf wollte nichts anderes als mit einem Schwert in der Hand durch die Gegend zu streifen und zu jagen. Wie der Vater so die Tochter, hiess es immer wieder in der Familie. ‚Habe ich sie zu oft mit auf die Jagd genommen?‘ fragte er sich nur allzu oft und fühlte sich nicht nur verantwortlich, sondern sogar schuldig.
Für Zamuel war die Flut von Fragen und Gedanken kaum zu bewältigen. Daher war er in letzter Zeit immer öfter und länger hier anzufinden. Und er fand immer schwerer seine Ruhe.
„Bäume, älter als die Menschheit, höher als der Himmel, mächtiger als ein Riese. Es ist atemberaubend und unglaublich, meine Dame. Sie werden ihren Augen nicht trauen.“
Constanze lächelte einfach nur, in ihrem Kopf entstanden Bilder, während der alte Mann erzählte, welche große Abenteuer und Gefahren verhiessen. Sie liess sich mitnehmen auf eine Reise in eine sagenhaftige, unbekannte Welt, welche ihrer Ansicht nach nur darauf wartete entdeckt zu werden.
„Und dann die Eingeborenen. Sie werden es nicht glauben, aber sie sind, ich wage es gar nicht zu sagen, sie sind wie Affen mit langen, schlanken Gliedern und sie können ihren Kopf mit ihren blossen Händen zerquetschen, so stark und urtümlich sind sie. Ach, was sage ich, mit einer Hand!“
Der gesunde Menschenverstand mahnte Constanze, dass sie vielleicht nur die Hälfte dessen glauben sollte, was sie erzählt bekam. Allerdings empfand sie es angenehm sich dank der fabelhaften Schilderungen schon einen Vorgeschmack auf das Neue zu geben. Auch wenn sie immer wieder auszubrechen suchte und das Kind in sich auslebte, was sie ja eigentlich noch war. Aber dieses musste dank einer strengen Erziehung und exzellenten Ausbildung seinen Körper mit dem eines militärisch perfekt geschulten Offiziers teilen.
„Die Tiere... oh, ich sage euch, es sind Untiere. Schlangen, deren Gift sofort tödlich ist. Echsen, deren Odem einen in einen tranceartigen Zustand versetzt, so dass man ehe man sich versieht schon von ihren mächtigen Kiefern zermalmt wird. Und das ist nur der Anfang sage ich.“
Verträumt spielte die junge Offizierin mit ein paar Strähnen ihrer feuerroten Haare, welche sie unentwegt um ihren Finger gleiten liess. „Glauben sie man kann das gesamte Gebiet durchqueren und auch Kontakt mit den Eingeborenen aufnehmen?“
Entsetzt richtete sich der alte Mann auf. „Aber meine Dame! Das ist unmöglich! Dieses Gebiet ist nicht nur zu weitläufig, wie ich ihnen gesagt habe, es ist extrem gefährlich. Und diesen Stammesleuten kann man nicht trauen. Die werden nur daran denken, wie sie sie schnell in einen Kochtopf bringen können. Mit diesen Leuten kann man ja nicht einmal handeln. Das können sie sogar jeden Tarvesyi fragen. Und die handeln mit jedem Volk, wie auch sie wissen sollten. Ihre Unschuld und Naivität möchte ich verantwortlich machen für ihre Frage. Aber ich darf ihnen sagen: nein, das ist nicht möglich. Vergessen sie solche dummen Gedanken gleich wieder. Die Tarvesyi haben mit ihrer Hafenstadt am Rande der Wildnis ein Wunderwerk vollbracht und es gibt eine Handelsroute, welche den Urwald so flott als möglich verlässt. Auch die Tarvesyi wagen sich nicht weit hinein. Was im Herzen dieses Dschungels noch schlummert... das weiss niemand und jeder der es zu erfahren versuchte ist nicht mehr zurückgekommen.“
„Aber es gibt doch diesen Jäger, er hat doch ein Camp errichtet und veranstaltet Abenteuerjagden für reiche Geschäftsleute und Lebemänner.“
„Ich habe davon gehört. Ja, aber selbst dieser Verrückte beschränkt sich darauf am nördlichsten Rand sein Lager aufzuschlagen und dringt auch nicht sonderlich weiter vor.“
„Nun, dann werde ich wohl der erste Mensch sein, welcher die Reise quer hindurch zurück in unser Königreich durchführt.“
Der alte Mann sog tief Luft ein und stand dann auf. Er streckte sich durch um so groß wie möglich zu wirken. Da Constanze sehr zierlich und fragil wirkte und auch ihr unbekümmertes Lächeln noch immer dem Mann entgegenstrahlte musste der alte Mann einem unbeteiligten Beobachter als unfreiwillig komisch erscheinen. „Mir scheint sie sind von allen guten Geistern verlassen oder sie haben mir einfach nicht zugehört! Junges Fräulein, zum Wohle ihrer eigenen Gesundheit und denen welche sie mit ihren dummen Reden verführen und ins Unglück stürzen könnten mahne ich sie mit diesen Gedankenspielereien aufzuhören! Es kehren schon genug und immer mehr waghalsige Idioten von Jahr zu Jahr nicht zurück aus dieser Hölle. Werfen sie ihr noch so junges Leben nicht weg!“ Mit dieser Ansprache verliess er die weiterhin auf ihrem Fass hockende Constanze. Er stampfte geradezu davon. Seine sich langsam immer weiter entfernenden Schritte knallten und hallten auf dem Deck ihres Schiffes aber noch lange nach. Und jeder Knall veranlasste die junge Offizierin noch ein wenig mehr von dem Urwald zu träumen und ihre Vorstellung noch ein wenig tiefer in ihn Eindringen zu lassen.